Demokratiedebatte spaltet die EU-Politik

Veröffentlicht: Juni 21, 2025

Das europäische Parlament in Straßburg während einer Plenarsitzung Photo by DAVID ILIFF. License: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Ein verdecktes Netz der Einflussnahme auf das Parlament erschüttert die Europäische Union: EU-Generaldirektionen bezahlten NGOs, um politischen Druck auf Abgeordnete auszuüben. Während die einen diese Praxis als normales zivilgesellschaftliches Engagement verteidigen, sehen Kritiker darin „staatlich orchestrierten Lobbyismus“ – einen systematischen Verstoß gegen die Gewaltenteilung, der demokratische Prinzipien untergräbt. Das EU-Parlament reagiert mit einer neuen Kontrollgruppe.

Anfang Juni 2025 berichtete Die WELT, dass EU-Beamte über verdeckte Förderverträge politische Kampagnen unterstützt hätten, die zum Ziel hatten, Interessen einzelner Generaldirektionen in der Legislative und der Öffentlichkeit durchzusetzen. Seither gibt es seitens zahlreicher NGOs sowie linker und grüner Abgeordneter große Aufregung und widersprüchliche Aussagen: Das sei alles nicht neu, die Vorwürfe seien Teil einer gezielten Kampagne gegen zivilgesellschaftliches Engagement und außerdem seien die Verträge nicht geheim, sondern lediglich nicht öffentlich.

Es ist richtig, dass die Vorwürfe nicht neu sind. Schon im Januar 2025 hatte beispielsweise die niederländische Tageszeitung De Telegraaf berichtet, sie habe geheim gehaltene Verträge zwischen der Europäischen Kommission und einzelnen NGOs eingesehen. Daraus gehe hervor, dass einzelne Generaldirektionen jahrelang verschiedene Lobbygruppen mit dem Auftrag subventionierten, sich für die Pläne des ehemaligen EU-Kommissars Frans Timmermans einzusetzen. Vorausgegangen war ein Bericht, den der Haushaltskontrollausschuss des Parlaments angefordert hatte.  Der Bericht hatte mangelnde Transparenz der NGO-Förderung beklagt: Zwar werde die Tatsache der Förderung öffentlich gemacht, aber es bestehe „keine Verpflichtung, Informationen bereitzustellen, und zwar in einer Weise, die es externen Forschern und der Öffentlichkeit im Allgemeinen ermöglicht, mit Fördermitteln finanzierte Maßnahmen in einen Kontext zu stellen, ihre Auswirkungen und die gewonnenen Erkenntnisse zu verstehen und einen fundierten politischen Dialog zu führen.“

Als Beispiele für diese Informationen, die der Öffentlichkeit vorenthalten werden, nannte De Telegraaf einen Vertrag der EU mit dem European Environmental Bureau, dem europäischen Dachverband von Umwelt-NGOs, mit dem ausdrücklichen Auftrag, mindestens 16 Beispiele beizubringen, in denen das Europaparlament dank ihrer Lobbyarbeit Gesetzestexte mit grünen Anliegen ambitionierter gestaltet habe.

EU-Kommissar gibt Vorwürfe zu

Die EU-Kommission bestritt den Sachverhalt damals nicht. Der polnische EU-Kommissar Piotr Serafin (Haushalt) erklärte gegenüber dem Telegraaf, er halte solche Verträge für inakzeptabel: „Es ist unangemessen, Vereinbarungen zu treffen, die NGOs verpflichten, Mitglieder des Europäischen Parlaments zu beeinflussen”, sagt er der Zeitung. „Leider gab es solche Praktiken in der Vergangenheit, und sie müssen abgeschafft werden. Es wurden bereits Maßnahmen ergriffen, um dieses Problem anzugehen, und ich kann allen versichern, dass sie nicht mehr vorkommen werden.“

Bereits im November hatte die EU-Kommission die Vorwürfe indirekt eingestanden, indem sie mehrere Briefe an ca. 30 Umwelt-NGOs verschickte, in denen sie die Organisationen davon in Kenntnis setzte, dass die Mittel, die sie aus dem EU-Umweltfonds erhalten, nicht mehr für Lobbyarbeit verwendet werden dürften. Eines dieser Schreiben wurde von Politico veröffentlicht.

Diese Berichterstattung veranlasste Die WELT, weiter zu recherchieren. Ihr Team konnte nach eigenen Angaben mehrere dieser Verträge vollständig einsehen. Sie waren, so die Zeitung,überraschend konkret“: „Die EU-Beamten formulieren genau, was sie von den Aktivisten als Gegenleistung für die Fördergelder erwarten – etwa eine bestimmte Anzahl an Lobby-Briefen, Nachrichten in den sozialen Medien und Treffen mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments.“ Die NGO ClientEarth beispielsweise erhielt 350.000 Euro Fördergeld, ganz konkret, um den Kohleausstieg in Deutschland zu beschleunigen und das „‚finanzielle und rechtliche Risiko‘ der Betreiber zu erhöhen“. Zwischen der NGO Friends of the Earth und der Generaldirektion Umwelt gab es eine Vereinbarung zum Stopp des Mercosur-Freihandelsabkommens. Im Gegenzug für 700.000 Euro Fördermittel sollte es mindestens „drei Treffen mit EU-Abgeordneten“ und „zwei Treffen mit Vertretern der Kommission“, darunter aus der Generaldirektion Handel geben.

Manipulation des Parlaments

Doch der eigentliche Skandal liegt dabei nicht in der Verschwendung von Steuergeldern, indem die einzelnen Abteilungen der Kommission sich gegenseitig Knüppel zwischen die Beine werfen. Er liegt auch nicht darin, dass NGOs das tun, wofür sie gegründet wurden: Lobbyismus zu betreiben. Der Skandal ist, dass solche nicht-öffentlichen Vereinbarungen die Gewaltenteilung und damit die Demokratie untergraben: Die Exekutive beeinflusst mit öffentlichen Geldern und ohne jede Transparenz die Legislative und versucht damit die Manipulation der Gesetzgebung, indem sie auf Umwegen und verschleiert Druck auf die Parlamentarier ausübt.

So sehen es die meisten Kommentatoren. Einzig ZEIT Online hielt mit Mark Schieritz dagegen. Er bezeichnete die Aufregung als überzogen und suggerierte, hier werde an einer Verschwörungstheorie von einem „deep state“ gebastelt. Die Förderung von NGOs, deren Ziele bekannt seien, sei öffentlich, demokratisch legitimiert und notwendig, um ein Gegengewicht gegen die „Lobbymacht der Wirtschaftsverbände“ in Brüssel zu schaffen, denn rund 70 Prozent der über 25.000 registrierten EU-Lobbyisten arbeiteten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Es gebe zwar Transparenzlücken, doch „kaum Indizien für eine geheime Allianz aus Beamten und Aktivisten in Brüssel. Und schon gar nicht im Geheimen.“

Der sozialdemokratische Politiker Mathias Brodkorb, Greenpeace-Mitglied und ehemaliger Bildungs- und Finanzminister in Mecklenburg-Vorpommern, widerspricht Schieritz ausdrücklich: „Es ist das eine, wenn der Staat/die EU durch Förderprogramme ein Gleichgewicht der Kräfte schaffen will. Etwas ganz anderes ist es allerdings, wenn der Staat mit Steuermitteln NGOs quasi als kampagnenartige Truppenteile engagiert, um mit ihrer Hilfe obrigkeitsstaatlich nicht nur die öffentliche Meinungsbildung, sondern auch die des Parlaments zu manipulieren.“ Er interpretiert die Vorgänge grundsätzlicher. Kernmerkmal der „Zivilgesellschaft“, zu der ein Briefmarkensammlerverein ebenso zähle wie eine Gewerkschaft, sei nicht ihre Gemeinwohlorientierung, sondern ihre Unabhängigkeit vom Staat. Auch Organisationen, die „Fehlentwicklungen oder Wünsche relevanter Teile der Bevölkerung“ bündelten und an die Politik herantrügen, müssten unabhängig sein, sonst könnten sie ihre kritische Funktion nicht mehr wahrnehmen. Diese Klarheit sei verloren gegangen.

Brodkorb sieht in der staatlichen Förderung von NGOs nicht mehr die kritischen Zivilgesellschaft, die einst Jürgen Habermas gefordert habe, sondern eher ein modernes Projekt kultureller Hegemonie im Sinne des marxistischen italienischen Vordenkers Antonio Gramsci. „Zivilgesellschaft“ sei ein politisches Instrument geworden, mit dem sich die Exekutive Rückendeckung organisiert.

„Immer mehr allgemeine Steuermittel werden von den Repräsentanten des Staates mobilisiert, um sie zivilgesellschaftlichen Organisationen zuzuschanzen. Wo dies – wie zum Beispiel bei Sportvereinen – im Interesse des Gemeinwohls geschieht, ist dagegen nichts zu sagen. Aber immer öfter werden derartige Programme missbraucht, um das eigene politische Vorfeld zu pampern oder die Macht des Staates subkutan in die privaten Lebenswelten ausgreifen zu lassen – nach Hannah Arendt übrigens ein zuverlässiges Merkmal totalitärer Herrschaft.“ 

Der Staatsrechler Prof. Hubertus Gersdorf bezeichnet bei Beck-aktuell, dem Interview-Podcast des juristischen Fachverlags C.H.BECK, die aktuelle Praxis sogar als verfassungswidrig. Sie verstoße gleich doppelt gegen die demokratische Ordnung. Kein Staat dürfe politische Meinungsträger finanziell unterstützen, damit sie in den Meinungsbildungsprozess eingreifen. Die Willensbildung habe von unten nach oben zu geschehen, nicht andersherum. Zum anderen, so Gersdorf, „ist eine solche Förderpraxis auch nicht mit dem Recht auf gleiche Teilhabe an der politischen Kommunikation in Einklang zu bringen.“ Der Grund: Die geförderten NGOs repräsentieren nur eine bestimmte Gruppe von Wählerinnen und Wählern, während die Ziele anderer Wählergruppen nicht gefördert werden. „So wird das elementare demokratische Recht auf Gleichheit bei der politischen Kommunikation verletzt. Also ein doppelter Verstoß gegen elementare Prinzipien der demokratischen Ordnung.“

Gersdorfs Fazit: „Gegen eine Förderung ist an sich nichts einzuwenden. Wichtig ist nur, dass sie gleichmäßig erfolgt und dass die Exekutive keinerlei Spielraum bei der Mittelvergabe hat.“ Er fordert eine gesetzliche Grundlage und eine regierungsunabhängige Stelle ähnlich den Landesmedienanstalten, die über die Mittelvergabe entscheidet. „Solange diese beiden Grundvoraussetzungen nicht erfüllt sind, ist die Förderpraxis sowohl auf EU-Ebene als auch auf nationaler Ebene mit geltendem Recht kaum zu vereinbaren.“

Neue Arbeitsgruppe des EU-Parlaments

Am Donnerstag, 19. Juni 2025, beschlossen dann auf Initiative der EVP-Fraktion die Fraktionsvorsitzenden im EU-Parlament mehrheitlich, im Haushaltskontrollausschuss eine feste Arbeitsgruppe namens „Scrutiny“ einzurichten, die alle Finanzströme und Verträge zwischen der EU-Kommission und NGOs untersuchen soll. Diese Arbeitsgruppe wird, so die EVP, anders als sonstige Sonder- oder Untersuchungsausschüsse des Europäischen Parlaments echte Haushaltskontrollbefugnisse haben.

Damit besinnt sich das Parlament auf seine originäre Aufgabe in einer Demokratie: die Exekutive zu kontrollieren, die systematisch gegen demokratische Grundprinzipien verstoßen hat.

Ludger Weß